Sprecherausbildung Mediensprechen

"Nimm dir die Zeit!" - Das Kreuz mit dem Auswendiglernen

Siebter Workshop für 16/2: Prosa

von Katrin Boers

Der Jahrgang 16/2 der Mediensprecher-Ausbildung marschiert mit großen Schritten voran. An diesem Wochenende steht Prosa mit Trainerin Julia auf dem Plan. Aufgabe für jeden für diesen Workshop: ein Stück Literatur (etwa 1 Minute) auswenig können. Verdammt – warum ist auswendig lernen nur so schwer? Die eine schreibt den Text mit der Hand und am PC mehrmals ab, der andere lernt das Stück Text täglich in der S-Bahn. Trotzdem sind alle nervös zu Beginn des ersten Workshoptages – und dazu auch noch eine andere Umgebung. Wir verbringen den Tag in einer Halle der alten Farbwerke und das Warm-Up übernimmt jetzt jeder selbst. Julia fordert uns auf: "Beginnt den Raum mal schamlos-freudvoll mit eurem Atem und euren Stimmen zu füllen!" Nach dem Warm-Up resümiert Sebastian: "Wie Drogen! Eben fühlte ich mich noch, wie von drei Dampfwalzen überfahren, jetzt fühl ich mich super!"

"Huch, der Text ist plötzlich weg!", ruft dann jemand panisch. Doch zum Warmreden und um den Raum endgültig für sich einzunehmen, hat Julia eine coole Übung für uns: "Jeder darf diesen Raum jetzt so einrichten wie er mag. Stellt euch vor, ihr dürft hier einziehen – Geld spielt keine Rolle!" Da gab es kein Halten mehr. Jeder hatte eine Minute als Innenarchitekt und wir stellten Konzertflügel und offene Kamine in den leeren Raum. Wir zimmerten uns deckenhoche Bibliotheksregale inklusive Leitern, eine super ausgestattete Küche mit meterlanger Tafel zum Speisen und Highend-Stereoanlagen mitten im Raum, um endlich einmal die perfekte Akustik zu haben und eine Wasserrutsche gab es auch plötzlich.

So herrlich locker gingen wir an unsere Texte und plötzlich war die Angst vorm Textvergessen wieder da. Am Anfang durfte jeder den Text einmal runterasseln, bevor es an die Details ging. Aber Julia nahm jedem die Angst: "Nimm dir Zeit!", dieser so einfache, aber doch magische Satz kam bei jedem und wir merkten bald, dass er wirklich stimmte. Weniger gehetzt und in Ruhe, fielen uns die Sätze und Wörter wieder ein. Lange Pausen erhöhten sogar die Spannung, in der sich keiner zu atmen traute bis es weiterging. Und die Texte hatten es in sich: es ging um Bienen, den Nordpol, um Wale, die erste Radtour, Elefanten, Wale, Mörder, Verrückte im Pinguinkostüm, verlorene Söhne, blutende Bücher und Hunde, die in Flure kacken.

Julia nimmt sich für jeden Zeit und alle hören gespannt zu und geben immer wieder Feedback, wie die Worte gewirkt haben. Rasch schält sich die wahre Bedeutung des Textes heraus und es hat etwas magisches, wie alles immer bunter, dreidimensionaler und belebter wird. Das mit dem Auswenigkönnen ist kein Thema mehr und es geht - das müssen wir alle zugeben - irgendwie besser, als mit einem Zettel in der Hand. "Hallo, komm in meine Welt!" – das war die Aufforderung, die jede/r Sprecherin/in den anderen vermitteln sollte und es klappte. Als wir den Text verstanden hatten, wußten was der Erzähler ausdrücken möchte und eine Entscheidung für eine Richtung gewählt und die Handlungsbögen bis zum Ende gedacht hatten, funktionierte es bei allen.

Wieviel Psychologie zum Sprechen gehört, damit es richtig gut klingt, finden wir immer mehr heraus. Aber wir lernen, wie es geht und das macht stolz und jede Menge Spaß. Die Texte verdienen es, dass wir sie groß machen und dass wir sie ernst nehmen und wert schätzen, das überträgt sich auch auf die Zuhörenden. Das diese Erlebnisse kein Zufall in der Halle waren, merken wir am zweiten Tag zurück in den vertrauten Räumen der Tannenstraße. Dort geben wir neue und andere Text zum Vortrag und auch da passiert das Magische. Plötzlich sind wir im eisigen Russland und spüren den Frost, schleichen durch einen dunklen Wald und begegnen einem Fuchs, sitzen in einem grauen, trostlosen Zimmer, sehen den toten Hund einer Frau und sind zum Ball der Nattern eingeladen.

Wow – am Ende des Bogens fanden wir einen Topf voller Gold!

(Oh, da ist der Rückblick auf den Workshop schon wieder einmal etwas pathetisch geraten, aber wenn nicht hier, wo dann?)




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